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Paartherapie und ich. Mein ganz persönlicher Weg.

Berit Brockhausen beschreibt ihren Werdegang als Paartherapeutin als zyklische Entwicklung: Zufriedenheit und Erfolg in der Arbeit stoßen immer wieder an Grenzen, die dazu führen, dass die Therapeutin ihre Komfortzone verlässt um Neues zu lernen. Auf diesem Weg hat sich Berit Brockhausen mit ganz unterschiedlichen Ansätzen der Paartherapie beschäftigt und sich selbst und ihr Herangehen an die Paartherapie verändert.

1. Glückliche Paare haben auch Probleme – aber sie gehen anders damit um.

Das war 1997 die Überschrift meiner ersten Homepage. Zu dieser Zeit hatte ich bereits 15 Jahre in zwei Beratungsstellen gearbeitet, immer auch mit Paaren, denn es ging um Sexualität, Familienplanung, um Kinderwunsch, Schwangerschaft und Schwangerschaftsabbruch.

Grundlage zu Beginn meiner Arbeit (1985) mit Paaren war der verhaltenstherapeutische Ansatz: Ich zeigte Paaren ihre negativen Interaktionskreisläufe auf, ich machte mit ihnen Kommunikationsmittel- und Konfliktlösungstraining, und sie bekamen Hausaufgaben wie „erwischen Sie Ihre:n Partner:in dabei, wie er:sie etwas gut macht.“

All diese Dinge funktionierten mit bestimmten Paaren wunderbar, mit anderen weniger und mit wieder anderen gar nicht. Der Unterschied lag in der Motivation. Manche Klient:innen waren so zerstritten, dass sie kein Interesse an einem „Verwöhntag“ hatten. Andere hielten die Struktur der Kommunikationübung mit meiner Unterstützung eine Dreiviertelstunde durch (was wirklich gut ist), um dann in die alten zerstörerischen Muster zurückzufallen und den kurz erreichten Erfolg und positiven Kontakt gründlich zu zerstören.

In solchen Fällen war ich ratlos. Was tun, wenn Erklärungen und hilfreiche Strukturen nicht zu der gewünschten Veränderung führen?

Was ich allerdings in dieser Zeit gründlich gelernt habe: meine Klient:innen zu unterbrechen, sobald deren Interaktion dysfunktional wurde. Und ich wurde sehr gut darin, ganz schnell die Teufelskreise zu erkennen und aufzuzeigen, in die sich die Paare vor meinen Augen verstrickten.

2. Angenommen, Ihr Problem wäre gelöst …

Wie konnte ich die Paare unterstützen, die von meinem verhaltenstherapeutischen Vorgehen nicht profitierten? (Achtung. In diesem Beitrag beschreibe ich nicht die objektiven Grenzen therapeutischer Verfahren, sondern die Grenzen, an die ich in einer bestimmten Zeit meiner beruflichen Biografie mit diesen Verfahren gekommen bin.) Kolleg:innen kritisierten mein sehr strukturiertes Vorgehen und machten mich neugierig auf den systemischen Ansatz.

Mehrere Jahre wendete ich in meiner Arbeit die lösungsorientierte Kurzzeittherapie nach Steve de Shazer und Imsoo Kim de Berg an. Die Suche nach Ressourcen und Ausnahmen, die Umbewertung von Problemen als sinnvolles Verhalten, sowie der sorgfältige Blick auf die Motivation der Person, die vor mir sitzt, war für viele Paare hilfreich. Die Frage, was anders sein wird, wenn wir erfolgreich gearbeitet haben, gehört bis heute in mein Repertoire.

Viele Paare brauchten nur wenige oder sogar nur eine Sitzung. Die Interventionen führten offenbar schnell zu Entspannung im System und zu einem veränderten Umgang mit den Schwierigkeiten.
Allerdings gab es auch Paare, die sich aufgrund der positiven Umdeutung nicht ernst genommen fühlten. Oder diejenigen, die sich blöd vorkamen, weil sie sich so schwer taten, obwohl es die Lösung doch ganz einfach schien. Und dann gab es die Paare, die drei Jahre später wieder kamen, weil die Lösung nicht mehr funktionierte.

3. Prinzip Selbstverantwortung

1993 begann ich die Fortbildung „Paartherapie bei sexuellen Funktionsstörungen“ der Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung, die mich in vielerlei Hinsicht sehr geprägt hat.

Hier flossen verhaltenstherapeutische, systemische und tiefenpsychologisches Denken zusammen. Ich konnte die wichtigsten Aspekte auch für andere Paarthemen außerhalb der Sexualität nutzen.

Hilfreich waren immer wieder die Fragen: wer will was? Was tut diese Person, um es zu bekommen? Welche Wirkung hat dieses Verhalten?

Im erfahrungsorientierten Vorgehen probierten die Paare neues Verhalten aus: was geschieht, wenn jedes sichtbar wird mit dem, was es sich wünscht und was gerade gut für diese Person ist? Was geschieht, wenn Unterschiede spürbar werden? Wie gehen beide damit um, wenn das, was dem einen gefällt, für das andere nicht angenehm ist? Was passiert, wenn eins „Veto“ zu dem sagt, was das andere mag?

Die ganz konkrete Anwendung des „Prinzips Selbstverantwortung“ mit seinen so einfach scheinenden Grundprinzipien (nur tun, was sich gut anfühlt und alles stoppen, was sich nicht gut anfühlt) unterstützte die Paare, klarer mit ihren Bedürfnissen und den dadurch entstehenden Spannungen umzugehen.
Häufig schlug ich meinen Klient:innen vor, mit dem Thema Sexualität zu beginnen, wenn sie mehrere Konfliktfelder hatten. Meine Begründung: weil es einfacher ist und weniger komplex als Themen wie Kindererziehung oder Schwiegerfamilie.

Doch auch hier kam ich an Grenzen. Meine persönliche Schwäche war die Arbeit mit ängstlich-vermeidenden Paare, bei denen ich die auftretenden Spannungen nicht therapeutisch nutzte, was zu langen und langweiligen Therapieverläufen führte.

4. Erwachsenes Bedürfnismanagement: bitten und bieten statt jammern und (an)klagen

Kurz darauf besuchte ich eine Fortbildung von Martin Koschorke. Methodenmäßig liefen diese Fortbildungen unter einem tiefenpsychologischen Ansatz, aber vor allem waren sie extrem praxisorientiert. Ich erkannte ganz viel wieder, was ich mir über Versuch und Irrtum angeeignet hatte. (Das ist das Gute an Paartherapie: es wird sehr schnell deutlich was funktioniert und was nicht. Und das, was funktioniert, probiere ich das nächste Mal wieder. Was nicht funktioniert, lasse ich weg.)

Martin Koschorke verdanke ich sehr viele Interventionen und Bilder, aber vor allem den Blick auf den Prozess: es ist hilfreich zu verstehen, in welcher Phase wir sind, denn das Vorgehen unterscheidet sich in der Eingangsphase „wir machen einen Spaziergang durch den Garten der Probleme des Paars“ und der Mittelphase, in der die Arbeit häufig zäh ist.

Bis heute ist mir Martin Koschorke im Ohr mit seinem Hinweis auf das, was Arnold Retzer in der systemischen Paartherapie „affektive Infektion“ nennt, und der Notwendigkeit, auf die eigene Arbeitsfähigkeit zu achten.
„Die Probleme des Paares gehören dem Paar“ ist ein Satz, der mich bis heute begkeitet.

5. Die geheimen Formeln glücklicher Beziehungen

Inzwischen (1997) war klar geworden, dass ich mich mit neben der Beratungsstellentätigkeit mit einer Praxis selbständig machen wollte, in der der ich ausschließlich Paare behandele.

Seit meinem Studium war ich eine große Freundin empirischer Studien und es hatte mich interessiert, was die Wissenschaft über Paartherapie sagte.

Natürlich kam ich nicht an John Gottman vorbei. Begeistert nahm ich seine Erkenntnisse auf und erklärte den Paaren, was sie tun müssten, damit es ihnen besser geht. Die wenigen, die das taten, denen ging es tatsächlich besser.
Aber hier wurde das erste Mal gnadenlos deutlich, dass Wissen und Erkenntnisse allein nichts verändern. Ja, es ist einleuchtend, dass auf jede negative Interaktion mindestens fünf positive kommen müssen, das hatte ich den Paaren ja bereits zu Beginn meines Arbeitslebens mit dem Bild des Beziehungskontos erklärt. Aber nur, weil es einleuchtet und weil es stimmt, heißt das noch lange nicht, dass wütende Partner:innen das auch umsetzen (können).

Eine Studie von Jürg Willi und Astrid Riehl-Emde und anderen zeigte, dass es Paaren nach 5 Sitzungen deutlich besser ging, wenn diese in der Therapie eine Konfliktsituation ganz in Ruhe nicht nur beschrieben, sondern die Gelegenheit bekommen hatten, das eigene innere Erleben in dieser Situation zu schildern. Diese Intervention lernte ich in einem Seminar bei Robert Frey kennen, und wende sie bis heute an – weil ich es immer noch extrem wertvoll finde. Für mich funktioniert sie am besten mit einer von mir entwickelten Strukturierung, die mir die Arbeit erleichtert (siehe Studienbrief Mikroanalyse).

Über Martin Koschorke kam ich in Kontakt mit dem Institut für Kommunikationstherapie
und angewandte Forschung in Partnerschaft und Familie e.V.
. Ich habe alle Seminare zur Paarkommunikation besucht und in meinen Therapien angewendet.

Mein Fazit: je früher Paare lernen, sich ohne Vorwürfe auszudrücken und sich mit ihre Gefühle offenbaren, desto besser geht es ihnen. Auch Studien zeigten überzeugend, dass Paare, die ein Kommunikationsprogramm durchliefen, sich seltener trennten als die, die einen traditionellen Ehevorbereitungskurs gemacht hatten.

Nicht ganz eindeutig waren für mich die Erfolge mit Paaren, die bereits lange zusammen waren oder bei denen eine hohe Feindseligkeit herrschte. Hier konnte es passieren, dass das Paar mit meiner Unterstützung eine schwierige Situation aufarbeitete, und am Ende zufrieden meine Praxis verließ, nur um das nächste Mal mit einem neuen Konflikt zu kommen, dessen Spannung dann wieder mit meiner Hilfe aufgelöst wurde. Zwar endete jede Sitzung mit mehr Nähe und Zufriedenheit – aber im Alltag veränderte es den Umgang des Paares nicht, weil sie nichts anders machten.

6. Revierkämpfe in der Liebe

Inzwischen (2007) hatte ich die Arbeit in der Beratungsstelle aufgegeben und arbeitete in meiner Praxis ausschließlich mit Paaren. Inzwischen war mir sehr klar, dass Paartherapie etwas anderes ist als die Arbeit mit Einzelnen.

Über Martin Koschorke war ich auf das Territorialkonzept aufmerksam geworden. Für die Vertiefung empfahl er mir Alfons Vansteenwegen, und dieser wiederum nannte mir ein Buch aus den 70Jahren, dass sich intensiv mit dem Konzept beschäftigte.
Das veränderte meine Arbeit mit den Paaren auf mehrere Weisen: zum einen erleichterte das Markieren von vorhandenen Konflikten als Revierauseinandersetzungen über aggressives oder gemeines Verhalten zu sprechen ohne dabei zu moralisieren. Darüber hinaus verhalf es mir zu mehr Klarheit, was Strategien bzw. Waffen in der Auseinandersetzung in Bedürfniskonflikten anging.

Ein Rundgang durch die Waffenkammer eines Paares und die systemische Intervention „Problemtäter“ nach Arnold Retzer gehören seitdem zu meiner Arbeit.

Über die Arbeit mit den Territorien in Verbindung mit Interventionen zur Konfliktverhandlungen entwickelte ich gemeinsam mit meinen Klient:innen das Hoheitsgebietemodell, was vielen Paaren ermöglichte, schwierige Probleme zu sortieren, kooperativ zu bleiben und dennoch klar für sich einzutreten. Heute weiß ich, dass ich in diesem Konzept bereits intensiv an der Differenzieung meiner Klient:innen gearbeitet habe.

7. Beschützer, innere Kinder und negative Introjekte

In der Zwischenzeit hatte sich die Verhaltenstherapie weiter entwickelt. Auf einem Symposium begegnete ich der schematherapeutischen Paartherapie und buchte sofort alle vier Seminare.

Das verfeinerte meine Arbeit mit den Teufelskreisen. Sie enthielten jetzt die Elemente:

  • Interpretation des Verhaltens von P (negatives Introjekt)
  • Verletztes, wütendes oder ängstliches Kind
  • Primäre Emotion
  • Beschützermodus (Angriff, Flucht, Anpassung)
  • Konkretes Bewältigungsverhalten (letzteres als Trigger für das negative Introjekt bei der Partnerperson)

Die Verbindung von biografischen Verletzungen mit gelernten Schutz- und Überlebensstrategien entsprach dem, was ich gemeinsam mit den Paaren in den Sitzungen entwickelt hatte und fokussierte es noch mal.

Mit dem Therapieziel, einen neuen Bewältigungsmodus auszubilden, nämlich den gesunden Erwachsenen, konnte ich viel anfangen. Schließlich arbeitete ich ja bereits seit 1993 am Prinzip Selbstverantwortung und seit 1995 mit Martin Koschorkes Begriff des erwachsenen Bedürfnismanagements.
Was für mich problematisch war, war das Konzept der „Nachbeelterung“. Als ursprünglich tiefenpsychologisch sozialisierte Psychotherapeutin war mir mulmig, dass die narzisstischer Bedürfigkeit der Therapeutenperson nicht problematisiert wurde. Auch die Gefahr einer emotionalen  Abhängigkeit von Patient:innen vom wohltuenden Beeltern durch die Therapeut:in wurde mir zu wenig hinterfragt.

Gleichzeitig rückte die Schematherapie alte und viel zu wenig genutzte Techniken wieder in den Blick, nämlich Imaginationen, erlebnisorientiertes Arbeiten und Körpertherapeutische Interventionen.

8. Wo bleiben die Gefühle?

Inzwischen hatte ich das erste Seminar bei David Schnarch besucht. Seine heftige Abwertung des emotionsfokussierten Ansatzes machte mich neugierig, und ich buchte ein Seminar, um mir selbst ein Bild zu machen. Zusätzlich ermöglichte mir eine nach diesem Ansatz arbeitende Kollegin gemeinsam mehrere Lehrfilme von Sue Johnson anzuschauen und in einer Arbeitsgruppe zu diskutieren, was ich sehr eindrucksvoll fand (Danke an Erika Kliever!).

Auch hier stellte ich fest, dass Menschen, die viel mit Paaren arbeiten, unabhängig voneinander bestimmte Muster erkennen und entsprechende Interventionen entwickeln – einfach, weil diese sich im Gegensatz zu anderen als wirksam erweisen.

Ich erkannte vieles wieder, was ich seit Jahren mit Paaren machte: die Teufelskreise erkennen und aufzeigen, mit den Klient:innen über die dem Verhalten zugrundeliegenden Gefühle und Bedürfnisse sprechen, sie unterstützen, schmerzliche oder verletzliche Gefühle auszudrücken.

Ich war beeindruckt, wie es Sue Johnson gelang, Klient:innen zu helfen, sich mit diesen vermiedenen Gefühlen zu konfrontieren. Um so problematischer fand ich den nächsten Schritt der Therapie, bei dem die Partnerperson Nähe, Trost und Halt geben sollte, um eine korrigierende Beziehungserfahrung und eine sichere Bindung zu ermöglichen. (Das ist, wie ich diesen Ansatz verstanden habe.) Für mich war das irritierend. Denn in meiner Erfahrung kann das Gegenüber häufig genau das NICHT geben, weil es ebenso verunsichert, genervt, oder getroffen ist.

8. Was redet der da?

Ich war neugierig und gespannt, nachdem ich Schnarchs Bücher gelesen hatte. Diese hatten mich gleichermaßen fasziniert und durch ihren amerikanischen Stil abgestoßen. Aber ich wollte unbedingt wissen, wie er mit Paaren arbeitet und inwieweit mir das hilft, meine Grenzen in der Arbeit mit Paaren zu erweitern.

Der erste Vortrag und vor allem seine Antworten auf Fragen nach dem Vorgehen in schwierigen Therapiesituationen waren großartig. Da sprach jemand, der sehr viel Erfahrung mit Paaren hat, und der sehr genau hinschaut.
All das, worüber er sprach, waren Dinge, die ich tagtäglich in der Praxis sah. Sein Vorgehen und seine Interventionen machten mich immer wieder sprachlos. Ich konnte sehen, dass sie sinnvoll und wirksam waren. Gleichzeitig fragte ich mich: wie kommt er darauf? Wieso komme ich nicht darauf? Und vor allem: Wie kann ich das lernen?

Von 2012 bis 2018 besuchte ich einmal im Jahr ein Seminar bei ihm in Deutschland. Sehr dankbar bin ich auch für die Fallseminare, die bis zu seinem Tod 2020 einmal im Monat online stattfanden. Ich habe dort mehrfach Fälle eingebracht und nicht nur an meinen eigenen Fallvorstellungen sehr viel gelernt.

Aber ich scheiterte immer wieder daran, das Gelernte gut umzusetzen. Es gab einen Moment, indem ich dachte, ich habe eine gute Vorstellung von möglichen Interventionen, – aber mir ist gar nicht klar, worauf die abzielen. Meine Klient:innen reagierten gemischt auf mein konfrontativeres Vorgehen. Manche erklärten, dies sei die beste Sitzung gewesen, die wir bislang zusammen gehabt hätten. Andere fühlten sich provoziert.

Ab 2015 lehrte David Schnarch in seinen Seminaren zunehmend seinen neuen traumatherapeutischen Ansatz, die Crucible Neurotherapy. Damit war ich unglücklich, denn mein Eindruck war, dass ich seinen Crucible-Paartherapieansatz noch gar nicht verstanden hatte.

So begann ich, intensiv zu lesen. Nicht nur Schnarchs Bücher. Sondern auch seine Vorträge. Ich fertigte Transkripte der Fallbesprechungen an, um besser zu verstehen, wie die einzelnen Elemente zusammenhängen. Ich las Bücher über Bowens Ansatz.
So entstand in mir allmählich eine innere Landkarte von differenzierungsbasierten Therapie. Und ich verstand, warum Schnarch immer wieder darauf hinwies, dass das Differenzierungskonzept einen Rahmen für die Therapie schafft, in welchem bestimmte Interventionen auf eine bestimmte Art (nämlich differenzierungsfördernd) angewendet werden – und dass sich dieses Vorgehen grundsätzlich von anderen Therapieansätzen unterscheidet.

Auf die Frage eines Kollegen, ob es eine Art Ablaufplan in der Crucibletherapie gäbe, und ob es eine sinnvolle Abfolge von Interventionen gäbe, hatte Schnarch in einer Fortbildung geantwortet, dass das der falsche Ansatz wäre, zu glauben, mit einer Art Manual könne man differenzierungsbasiert arbeiten. Entscheidend sei die Differenzierung der Therapeutenperson.
Heute weiß ich, dass er mit dem zweiten Teil seiner Antwort zwar recht hat. Meine eigene Differenzierung begrenzt, wie weit ich ein Paar in seinem Prozess begleiten kann.
Gleichzeitig gibt es aber eine sinnvolle Abfolge von Interventionen, die gelernt werden können. Und meine Erfahrung ist die, dass die Anwendung dieser Interventionen eingebunden in ein größeres Verständnis des Differenzierungskonzepts die Differenzierung der Therapeutenperson kontinuierlich herausfordert und wachsen lässt.

Was ich David Schnarch verdanke, kann ich gar nicht alles aufzählen. Hier nur das Wichtigste:

  • ein sehr genauer und präziser Blick auf Paare und auf das, was die beiden miteinander tun.
  • Die Bereitschaft, Grausamkeit unaufgeregt zu adressieren.
  • Ein tiefes Vertrauen in die Resilienz meiner Klient:innen und darauf, dass sie psychisch besser funktionieren können.
  • Das Wissen darum, wie unglaublich wichtig eine gute therapeutische Allianz ist.

Die Auseinandersetzung mit Bowen hat mein Augenmerk auf das Thema Spannungsregulation in Beziehungen gerichtet. Die Beobachtungen zu Spannungsregulationsmechanismen in Familien ist eine wichtige Grundlage in Bowens Arbeit. Seit ich in meiner Arbeit darauf achte, kann ich schwierige Reaktionen von Klient:innen besser einordnen und entspannt damit umgehen.
Darüber hinaus ermöglicht mir dieser Fokus, bei komplexen Problemen und Inhalten der Gespräche nicht das Ziel der Arbeit aus den Augen zu verlieren.

9. Wissen, was ich tue

Durch die intensive Beschäftigung mit dem Konzept Differenzierung machte die Arbeit mit den Paaren wieder Spaß. Ich wusste, warum ich konfrontierte und womit. Ich wusste, dass ich es im Interesse meiner Klient:innen tat und das führte zu einem spürbaren Wohlwollen. Und das wiederum ermöglichte den Menschen, mit denen ich arbeitete, über das nachzudenken, was ich sagte, auch wenn es wehtat.

Aber ich kam immer noch an eine Grenze. Inzwischen war mir klar, dass die härteste und wichtigste Arbeit in der Paartherapie daran besteht, die Arbeitsfähigkeit der Klient:innen zu ermöglichen und sie zu Entscheidungen herauszufordern: will ich so weitermachen wie bisher? Oder will ich mich und mein eigenes Verhalten verändern?

Ich konnte sehen, dass die Grenzen, an die ich in der Vergangenheit in meiner Arbeit gekommen war, immer damit zu tun hatte, dass es kein Commitment für Veränderung gab. Jetzt wollten meine Klient:innen an sich arbeiten. Wie konnte ich sie dabei unterstützen?

Ich nutzte Erfahrungen und Interventionen aus der Vergangenheit. Ich kehrte zurück zu Körperübungen und Skulpturen, um das Erleben der Klient:innen zu vertiefen, um ihnen zu ermöglich, mit neuen Haltungen zu experimentieren und neue Erfahrungen zumachen.
 Und ich entdeckte, dass vertraute Interventionen wie zum Beispiel bestimmte Kommunikationsübungen eingebunden in das Konzept Differenzierung und Selbstregulation wirksame Werkzeuge waren, die die Klient:innen in Selbstdefinition, Selbstausdruck, Selbstbestätigung und Selbstberuhigung unterstützten.

Hier hat mir die Beschäftigung mit Ellyn Bader noch einmal geholfen, viele Dinge noch genauer und feiner zu sehen und umzusetzen.

Die Voraussetzung für sichere Bindung ist eine sichere Selbstanbindung.

Marc Rackelmann

10. Bindung und Differenzierung – Wie passt das zusammen?

In Diskussionen stelle ich immer wieder fest, dass Differenzierung missverstanden wird, und Kolleg:innen denken, dass ich an Autonomie und Unabhängigkeit der einzelnen im Gegensatz zur Bindung arbeite. Doch schon Bowen definierte Differenzierung als die Fähigkeit, die widersprüchlichen Bedürfnisse nach Zugehörigkeit (Bindung) und Individualität (Selbstbestimmung) in sich selbst ausbalancieren zu können.

Doch was ist jetzt mit den Bindungsmustern? Spielen die in der Differenzierungsbasierten Paartherapie keine Rolle? Und ist es nicht auch ein schönes Paartherapeutisches Ziel, dass ein Paar seinen Stress gemeinsam Ko-regulieren kann, dass eins das andere trösten und beruhigen kann? (Ein Ziel das zum Beispiel die Ansätze von Guy Bodemann, Stan Tatkin (PACT) und andere verfolgen.)

Ja, die Bindungsmuster spielen eine Rolle und haben großen Einfluss darauf, wie die beiden Menschen reagieren, wenn die Spannung bei mindestens einem steigt. Wunderbar, wenn es dem anderen gelingt, ruhig zu bleiben und erfolgreich zu trösten oder zu beruhigen. Doch wenn das nicht möglich ist, dann ist es mir als Therapeutin wichtiger, die beiden dabei zu unterstützen, dass sie sich unabhängig vom Gegenüber selbst beruhigen und selbst bestätigen können.
Denn das ist die Voraussetzung dafür, dass sie die Verbindung mit dem Gegenüber halten können, auch wenn es schwierig wird. Diese Fähigkeit ist in meinen Augen die Voraussetzung für eine sichere Bindung.

Mit anderen Worten: erst bessere Differenzierung ermöglich sichere Bindung. Oder wie es mein Kollege Marc Rackelmann noch viel schöner formuliert: Die Voraussetzung für sichere Bindung ist eine sichere Selbstanbindung.

11. Lernen durch lehren

2013 habe ich für die Deutsche Gesellschaft für Verhaltenstherapie eine Fortbildungsreihe Paartherapie angeboten.

Daraus hat sich sehr schnell das Curriculum „Differenzierungsbasierte Paartherapie“ entwickelt. Ursprünglich wollte ich den Einzeltherapeut:innen bewährte und einfache verhaltenstherapeutische Werkzeuge für die Arbeit im Paarsetting zur Vefügung stellen, doch das Engagement, die Begeisterung und die Fragen der Teilnehmenden zeigten mir, dass das ehrliche Interesse an meiner Arbeit und den Besonderheiten der Paartherapie groß war.

Also zeigte ich den Teilnehmenden, wie ich arbeitete. Ich brach komplexe Themen und Interventionen in kleine Schritte runter, die gelernt und geübt werden konnten. Anhand der Fragen die auftauchten, und angesichts der Erfahrungen in den Übungen und Trainingsrollenspielen war ich herausgefordert, das komplexe Feld der differenzierungsbasierten Paartherapie noch besser zu verstehen um es erklären zu können. Ich glaube, es ist den Teilnehmenden gar nicht bewusst, wie viel ich durch ihre Fragen gelernt und verstanden habe.

Mit Erstaunen und großer Freude erfuhr ich aus den Feedbacks der Teilnehmenden, dass dieses Curriculum nicht nur wirksame Werkzeuge für die Arbeit mit Paaren vermittelt, sondern dass diese Interventionen und vor allem die differenzierungsbasierte Perspektive auch die einzeltherapeutische Arbeit präziser und erfolgreicher machen. Und nicht zuletzt stellten alle Teilnehmenden fest, dass sich ihre eigenen Beziehungen deutlich verbesserten. Auch in den gemeinsamen Seminaren konnten wir deutlich sehen, wie sich die Therapeut:innenpersönlichkeit der Kolleg:innen entwickelte, und wie sie zunehmend souveräner mit schwierigen paartherapeutischen Situationen umgingen.

Aufgrund der großen Nachfrage und des große Interesses am Differenzierungsansatz habe ich 2022 mit Unterstützung der DGVT beschlossen, ein eigenes Institut zu gründen und die Veranstaltungen ab 2024 in einer Kooperation von IDA und DGVT anzubieten. So soll dieser Ansatz im deutschsprachigen Raum bekannter gemacht und etabliert werden.

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Als Therapeut:innen immer besser werden.

Niemand fühlt sich gern unbeholfen. Doch beim Lernen gehört das am Anfang dazu. Die gute Nachricht: Das wird besser. Die schlechte Nachricht lautet allerdings: das geschieht nicht von allein. Was wir tun können, um als (Paar-) Therapeut:innen immer besser zu werden.

Spannende Links zum differenzierungsbasierten Ansatz

Der Begründer des differenzierungsbasierten Ansatzes Murray Bowen ist einer der Väter der systemischen Familientherapie und im deutschsprachigen Raum wenig bekannt. Das Differenzierungskonzept und die Gedanken von Bowen haben in den USA eine größere Verbreitung gefunden, und es gibt interessante Informationen über diesen Ansatz im Netz.

Therapeut:innen mit dem differenzierungsbasierten Ansatz

In deutschsprachigem Raum gründeten sich nach den ersten Seminaren von David Schnarch in Deutschland, der Schweiz und Österreich Arbeitsgruppen, in denen Kolleg:innen einander beim Lernen und der Arbeit mit diesem Ansatz unterstützen.
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